Philosophie


Abschied

Persönlich

Quellenangaben - Literatur

1   "Das klare Todesbewusstsein von früh an trägt zur Lebensfreude, zur Lebensintensität bei. Nur durch unser Todesbewusstsein erfahren wir das Leben als Wunder."

Max Frisch, "Rede an junge Ärztinnen und Ärzte" (1984), aus: Gesammelte Werke, Band VII

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"Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit ist ein köstliches Geschenk, nicht die Sterblichkeit allein, die wir mit den Molchen teilen, sondern unser Bewusstsein davon; das macht unser Dasein erst menschlich, macht es zum Abenteuer (...)"

Max Frisch, "Unterwegs" (1949), aus: Tagebuch 1946-1949
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2   "Alles was du siehst, Göttliches wie Menschliches, gehört zusammen, bildet eine Einheit: wir alle sind Teile eines grossen Körpers. Als Verwandte hat uns die Natur geschaffen, aus den gleichen Stoffen und zur gleichen Bestimmung. Sie hat uns Liebe zueinander eingegeben und zu geselligen Wesen gemacht. (...) Wir sind zur Gemeinschaft geboren. Unsere gesellschaftlichen Bindungen gleichen einem steinernen Gewölbe, das einstürzen würde, wenn seine einzelnen Steine sich nicht gegenseitig entgegenwirkten und es ebendadurch zusammenhielten."

Seneca, "Briefe an Lucilus"

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Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig
über uns selber.
Kostbarster Unterricht
an den Sterbebetten.
Alle Spiegel so klar
wie ein See nach grossem Regen,
ehe der heutige Tag
die Bilder wieder verwischt.

Nur einmal sterben sie für
uns, nie wieder.
Was wüssten wir je ohne sie?
Ohne die sicheren Waagen,
auf die wir gelegt sind,
wenn wir verlassen werden.
Diese Waagen, ohne die nichts
sein Gewicht hat.

Wir, deren Worte sich verfehlen,
wir vergessen es. Und sie?
Sie können die Lehre nicht wiederholen.

Dein Tod oder meiner
der nächste Unterricht?
So hell, so deutlich,
dass es gleich dunkel wird.


Hilde Domin (1909-2006), aus: Gesammelte Gedichte

Ich glaube an nichts in der Welt so tief, keine andere Vorstellung ist mir so heilig wie die Einheit, die Vorstellung, dass das Ganze der Welt eine göttliche Einheit ist und dass alles Leiden, alles Böse nur darin besteht, dass wir einzelne uns nicht mehr als unlösbare Teile des Ganzen empfinden, dass das Ich sich zu wichtig nimmt.

Die Einheit, die ich hinter der Vielheit verehre, ist keine langweilige, keine graue, gedankliche, theoretische Einheit. Sie ist ja das Leben selbst, voll Spiel, voll Schmerz, voll Gelächter. Sie ist dargestellt worden im Tanz des Gottes Shiva, der die Welt in Scherben tanzt, und in vielen anderen Bildern, sie weigert sich keiner Darstellung, keinem Gleichnis.

Du kannst jederzeit in sie eintreten, sie gehört dir in jedem Augenblick, wo du keine Zeit, keinen Raum, kein Wissen, kein Nichtwissen kennst, wo du aus der Konvention heraustrittst, wo du in Liebe und Hingabe allen Göttern, allen Menschen, allen Welten, allen Zeitaltern angehörst.


Hermann Hesse (1877-1962), aus: Die Göttliche Einheit

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3   Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!


Hermann Hesse, "Stufen", aus: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
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4   Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, sind Kleinigkeiten zu dem,
was in uns liegt. Und wenn wir das, was in uns liegt,
nach aussen in die Welt tragen, geschehen Wunder.


Henry Stanley Haskins oder Henry David Thoreau

Weiter:

Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.


Rainer Maria Rilke (1903), "Geduld mit Gott",
aus: Briefe an einen jungen Dichter (Franz Xaver Kappus) vom 16. Juli 1903
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5   "Cicero sagt: Philosophieren sei nichts anderes als sich auf den Tod vorbereiten; das heisst eben soviel als: Studieren und tiefe Betrachtungen versetzen gewissermassen die Seele in eine höhere Sphäre, und geben ihr eine unkörperliche Pflege, welches eine Art von Schule und Ähnlichkeit des Todes ist: oder es heisst auch soviel, dass alles Nachdenken, alle Weisheit dieser Welt sich endlich in dem einen Punkt auflöst, uns zu lehren, den Tod nicht zu fürchten."

Michel de Montaigne, "Philosophieren heisst sterben lernen", aus: Essais

Weiter:

Bereit zum Scheiden, geniesse ich gerade deshalb das Leben. (...) Vor dem Eintritt ins Alter war ich darauf bedacht, würdig zu leben - jetzt im Alter, würdig zu sterben. Würdig sterben aber, heisst gern zu sterben. (...) Vorzubereiten haben wir uns mehr auf den Tod als auf das Leben. Das Leben ist von sich aus genug geordnet, aber gierig stürzen wir uns auf dessen Ausstattung; irgend etwas scheint uns zu fehlen, und dieses Gefühl verlässt uns nie. Die Empfindung, ausgiebig, genug gelebt zu haben, gewinnen wir nicht aus Jahren oder Tagen, sondern aus geistiger Erkenntnis. (...) Fest wird das Herz nur in unermüdlich übender Vorbereitung, wenn man nicht nur Worte macht, sondern sich innerlich weiterbildet, sich auf den Tod vorbereitet. (...) Es ist etwas Bedeutsames, sich an den Tod zu gewöhnen. (...) Bereite Dich auf den Tod vor, das will sagen, bereite Dich auf die Freiheit vor. Wer Sterben gelernt hat, hört auf, Knecht zu sein.

Seneca, "Briefe an Lucilus"
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6   Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
Das Ew'ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebend'gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
 
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß' es an!
Verdank' es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.
 
Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du dadrinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
 
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle sicher wie geschmeidig
Durch Auen reichbegabter Welt.
 
Genieße mäßig Füll und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
 
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr;
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
 
Und wie von alters her im stillen
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.


Johann Wolfgang von Goethe, "Vermächtnis", 1892

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